Nach aktuellen Berechnungen des Bundesfinanzministeriums wird die Bundesrepublik in den kommenden Jahren die EU-Vorgaben zur Neuverschuldung deutlich verfehlen – trotz der Sonderregelung, die Verteidigungsausgaben bis 2028 von den Fiskalregeln ausnimmt. Das Ministerium legte am Dienstag dem Stabilitätsrat, dem zentralen Kontrollgremium für die deutschen Staatsfinanzen, neue Projektionen vor, die ein alarmierendes Bild zeichnen.

Für 2026 rechnet die Bundesregierung mit einem Defizit von 4,75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), 2027 soll der Fehlbetrag noch bei 4,25 Prozent liegen, berichtet aktuell das Handelsblatt. Damit würde Deutschland die in der EU-Fiskalordnung festgeschriebene Obergrenze von drei Prozent klar überschreiten. Selbst wenn man die Verteidigungsausgaben ausklammert, bleibt der Fehlbetrag nach Regierungsangaben mit 3,75 Prozent deutlich über der zulässigen Marke. EU-Diplomaten gehen deshalb bereits davon aus, dass ein sogenanntes „exzessives Defizitverfahren“ unausweichlich ist.

Das Finanzministerium räumt die prekäre Lage ein. „Wir bewegen uns in einem schwierigen finanzpolitischen Umfeld“, heißt es in Berlin. Zwar werde für das laufende Jahr noch mit einer Neuverschuldung von 3,25 Prozent gerechnet – damit würde Brüssel wohl kein Verfahren eröffnen. Doch die mittelfristige Finanzplanung offenbart wachsende Risiken: Bis 2029 könnte die Schuldenquote auf über 80 Prozent des BIP steigen, weit entfernt von der EU-Höchstgrenze von 60 Prozent. Der Stabilitätsrat sprach in seiner Stellungnahme offen von „Sorge um die Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen“.

Die Ursachen für die drohende Haushaltslücke sind vielschichtig. Nach dem Regierungswechsel hatte die schwarz-rote Koalition ein massives Schuldenpaket geschnürt: 500 Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte, dazu Verteidigungsausgaben von über einem Prozent des BIP, die von der Schuldenbremse ausgenommen sind. Diese expansive Finanzpolitik sollte Konjunktur und Modernisierung antreiben – nun aber droht sie Deutschland in einen Konflikt mit den europäischen Regeln zu bringen. Zwar hatte die EU-Kommission den deutschen Vierjahresplan zum Schuldenabbau genehmigt, der dank geplanter Reformen und Investitionen auf sieben Jahre gestreckt wurde. Doch die Drei-Prozent-Grenze bleibt verbindlich.

Ein mögliches Defizitverfahren würde Deutschland erheblich unter Druck setzen. Die EU-Kommission prüft die Haushaltsdaten jeweils im Sommer rückwirkend. Sollte die Neuverschuldung 2026 tatsächlich über der Grenze liegen, könnte Berlin im Juli 2027 den berüchtigten „blauen Brief“ aus Brüssel erhalten. Dann müsste die Bundesregierung binnen sechs Monaten konkrete Sparmaßnahmen oder Reformen vorlegen. Bleiben die Maßnahmen aus, drohen Geldbußen von bis zu 0,05 Prozent der Wirtschaftsleistung – theoretisch, denn bislang hat die EU noch nie eine solche Strafe verhängt.

Der Wissenschaftliche Beirat des Stabilitätsrats sieht die Lage dennoch kritisch. In seiner Stellungnahme heißt es, die Finanzpolitik sei „derzeit nicht so angelegt, dass die EU-Vorgaben in der mittleren Frist eingehalten werden können“. Selbst unter Berücksichtigung der Verteidigungs-Ausnahme bleibe das Defizit zu hoch. Ab 2026 sei „ein sehr restriktiver Kurs erforderlich“, um die Schuldenbremse und die europäischen Grenzen gleichzeitig einzuhalten.

2027 fehlen bereits 34 Milliarden Euro

Besonders problematisch sind die strukturellen Lücken in der Finanzplanung: Nach Berechnungen des Beirats fehlen 2027 rund 34 Milliarden Euro, bis 2029 wächst das Loch auf über 70 Milliarden. Wie diese Summen eingespart oder kompensiert werden sollen, ist offen. Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) verhandelt laut Regierungskreisen intern über Konsolidierungsmaßnahmen, während zugleich über neue Investitionsprogramme diskutiert wird – ein Spagat, der immer schwieriger wird.

Hinzu kommt die Kritik an der Wachstumsprognose. Die Bundesregierung kalkuliert mit optimistischen Annahmen für die Konjunktur, die Experten für überzogen halten. Sollte die Wirtschaft schwächer wachsen als geplant, würden die Defizite automatisch steigen. „Deutschland droht sich mit zu rosigen Erwartungen selbst in die Ecke zu manövrieren“, warnen Ökonomen.

Die EU-Kommission besitzt bei der Bewertung einen gewissen Spielraum. Sie kann ein Defizitverfahren aussetzen, wenn sie den Konsolidierungspfad eines Landes als glaubwürdig ansieht – wie zuletzt im Fall Spaniens. Doch derzeit deutet wenig darauf hin, dass Brüssel Berlin diesen Bonus gewähren wird. Die Kombination aus hohen Ausgaben, unklarer Finanzstrategie und strukturellen Lücken lässt Zweifel wachsen, ob Deutschland seine Haushaltsdisziplin noch rechtzeitig wiederherstellen kann.

Sollte das Verfahren tatsächlich eröffnet werden, wäre es ein politischer und symbolischer Rückschlag: Ausgerechnet das Land, das jahrelang als Hüter europäischer Haushaltsdisziplin galt, würde selbst zum Problemfall der Fiskalunion.

Dazu der Bericht im Handelsblatt: Haushaltspolitik: Deutschland droht EU-Defizitverfahren