Sind liberale Parteien heute noch relevant? Diese Frage stellt sich immer dringlicher – nicht nur in Deutschland, wo die FDP nach der Bundestagswahl 2025 aus dem Parlament geflogen ist, sondern auch in Österreich. Dort stehen die NEOS, geführt von Beate Meinl-Reisinger, vor einer ähnlichen Bewährungsprobe. Was ist aus dem einst so stolzen Versprechen geworden, Politik neu und anders zu machen? Und droht den österreichischen Liberalen tatsächlich dasselbe Schicksal wie ihren deutschen Kollegen?
Vom Aufbruch zur Anpassung
Als die NEOS 2012 gegründet wurden, galten sie als Hoffnungsträger einer neuen politischen Mitte. Sie wollten raus aus der lähmenden Lagerlogik zwischen SPÖ, ÖVP und FPÖ, sie wollten Transparenz, Eigenverantwortung und weniger Staat. Eine liberale Partei mit bürgerlichem Anspruch, aber ohne die konservative Schwere der ÖVP. Unter Meinl-Reisinger geben sich die NEOS proeuropäisch, modern und sachlich – und versprachen, nie Teil jenes Systems zu werden, das sie angetreten waren aufzubrechen.
13 Jahre später ist von diesem Anspruch wenig übrig. Seit dem Eintritt in die Bundesregierung wirken die NEOS gezähmt, eingebunden, systemkonform. Der einstige Gestaltungsdrang ist einer Art Verwaltungsmentalität gewichen. Kritik kommt inzwischen nicht nur von außen, sondern auch aus den eigenen Reihen.
Das FDP-Schicksal als Warnung
In Deutschland hat der Liberalismus diesen Wandel bereits teuer bezahlt. Die FDP, jahrzehntelang fixer Bestandteil der politischen Landschaft, wurde 2025 aus dem Bundestag gewählt. Nach vier Jahren Ampelkoalition mit SPD und Grünen war ihr Profil so stark verblasst, dass kaum jemand ihren Abgang bedauerte. Laut Umfragen hätten 61 Prozent der Deutschen das Verschwinden der FDP aus dem Parlament „nicht vermisst“. Parteichef Christian Lindner trat zurück, die Liberalen stehen vor einem Scherbenhaufen – wieder einmal.
Das Muster ist klar: Wer in der Regierung zu viele Kompromisse eingeht, verliert den Markenkern. Der Liberalismus, einst Garant für Eigenverantwortung und wirtschaftliche Vernunft, wird zum Synonym für Anpassung. Die FDP wollte regieren – und hat dafür ihre Identität geopfert.

NEOS: Zwischen Kontrolle und Komfortzone
In Österreich zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Der am heutigen Freitag verkündete Rückzug der langjährigen NEOS-Abgeordneten Stephanie Krisper, die in mehreren Untersuchungsausschüssen als unbequeme Aufklärerin gegolten hatte, hat ein Schlaglicht auf die innere Veränderung der Partei geworfen. Krisper galt als Symbol für kritische Kontrolle und Unabhängigkeit – Tugenden, die in der Regierungszeit der NEOS seltener geworden sind.
FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker formulierte die Kritik in gewohnter Schärfe:
„Stephanie Krisper hat in ihrer Funktion als Fraktionsvorsitzende ihrer Partei in den Untersuchungsausschüssen engagiert an der Aufklärung der unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände mitgearbeitet. Diese Eigenschaft scheint – wie Krisper selbst gegenüber der APA zwischen den Zeilen erklärt – bei den NEOS seit dem Eintritt in die Regierung nicht mehr gewünscht zu sein. Die Neos demontieren sich damit schrittweise selbst und steuern geradewegs in Richtung des FDP-Schicksals.“
Und weiter: „Es würde mich wundern, wenn die Neos hier jemanden nominieren, der ernsthaft mithilft, den ‚tiefen Staat‘ der ÖVP aufzudecken. Dafür fühlen sich Meinl-Reisinger & Co im Regierungsbettchen mit der ÖVP viel zu wohl.“
Man mag Hafeneckers Wortwahl überzogen finden, doch die Stoßrichtung ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Mit der Regierungsbeteiligung haben die NEOS ihre frühere Rolle als kritische Kontrollinstanz weitgehend aufgegeben. Während Krisper einst für Aufklärung und Transparenz stand, wirken die Liberalen heute wie ein leiser Partner im Machtgefüge.
Wahlprogramme: Gleichklang mit Unschärfen
Das Wahlprogramm der NEOS zur Nationalratswahl 2024 liest sich wie ein klassisches liberales Manifest: weniger Steuern, weniger Bürokratie, bessere Bildung, mehr Transparenz und ein klar proeuropäischer Kurs. Auch die FDP in Deutschland hatte ähnliche Schwerpunkte – Entlastung, Digitalisierung, Eigenverantwortung. Beide Parteien eint das Vertrauen in Marktmechanismen und individuelle Freiheit.
Doch in der Praxis sind die Ergebnisse überschaubar. Während die FDP in Berlin in den Zwängen der Ampelkoalition zerrieben wurde, drohen die NEOS in Wien in der Regierungsroutine zu versanden. Bildungsreformen stocken, die Verwaltung bleibt schwerfällig, und von der angekündigten „Transparenzoffensive“ ist bislang wenig zu spüren.
Hinzu kommt ein strategisches Dilemma: Wirtschaftsliberale Themen finden in einer Zeit hoher Lebenshaltungskosten und sozialer Verunsicherung immer schwerer Resonanz. Das Ideal des „unternehmerischen Bürgers“ wirkt elitär, wenn viele Haushalte um die Miete kämpfen. Auch hier wiederholt sich die deutsche Erfahrung – eine Partei der Mitte verliert den Kontakt zur Lebenswirklichkeit der Wähler.
Zwischen Verantwortung und Verwechslung
Der Liberalismus lebt vom Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung, Markt und Fairness, Staat und Individuum. Doch dieser intellektuelle Anspruch ist zugleich seine Schwäche. In Regierungskoalitionen, die auf Kompromissen beruhen, wird das liberale Profil leicht verwässert. Man will gestalten, aber nicht anecken. Man will Verantwortung tragen, aber keine Konflikte riskieren. Und so wird aus der Kraft des Aufbruchs allmählich die Kunst des Durchwurstelns.
Die FDP in Deutschland hat diesen Prozess bereits hinter sich. Die NEOS in Österreich stehen an einem ähnlichen Punkt. Ob sie die Kurve bekommen, hängt davon ab, ob sie den Mut finden, wieder unbequem zu werden – auch gegenüber ihren Regierungspartnern.
Der Preis der Anpassung
Liberalismus lebt von Unabhängigkeit – und stirbt an Nähe zur Macht. Die FDP hat das in Deutschland schmerzhaft erfahren, die NEOS erleben es nun in Österreich. Wer Teil des Systems wird, kann es nicht mehr verändern. Wer sich zu sehr anpasst, verliert seine Glaubwürdigkeit.
Die NEOS haben sich längst in die Logik der Regierung eingefügt. Sie reden von Freiheit, handeln aber wie Verwalter. Sie predigen Transparenz, schweigen aber, wenn es unbequem wird. Der einstige Reformeifer ist Routine gewichen, die liberale Idee einem Postenplan.
Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis auch in Österreich das passiert, was in Deutschland schon geschehen ist: Der Liberalismus verschwindet – nicht, weil ihn niemand mehr braucht, sondern weil seine Vertreter verlernt haben, wofür er steht. Die NEOS werden scheitern, weil sie Teil des Systems geworden sind, das sie einst bekämpfen wollten.