Deutliche Warnung des IWF: Europas Staaten verteilen zu viel Geld über Sozialausgaben

Der Internationale Währungsfonds (IWF) mahnt die europäischen Regierungen: Ohne einen entschlossenen Kurswechsel droht Europa in den kommenden Jahren eine gefährliche Schuldenlawine. In einer neuen, am Dienstag in Brüssel vorgestellten Studie warnt der IWF davor, dass sich die durchschnittliche Schuldenquote der europäischen Staaten bis 2040 auf 130 Prozent der Wirtschaftsleistung verdoppeln könnte – wenn die derzeitige Finanzpolitik unverändert fortgeführt wird.

Die Analyse umfasst 37 europäische Länder, darunter alle 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Großbritannien, die Türkei und Russland. „Europa steht an einem Wendepunkt“, sagte Alfred Kammer, der Europadirektor des IWF. Die Kombination aus demografischem Wandel, hohen Sozialausgaben, steigenden Kosten für Verteidigung und Energieversorgung sowie anhaltenden Belastungen durch Klimapolitik und Krisenbewältigung führe zu einem ungebremsten Anstieg der Schuldenberge, berichtet dazu das Handelsblatt.

Teure Zukunft: Alterung, Energie, Sicherheit

Vor allem die Alterung der Bevölkerung sorge für zunehmende Ausgaben im Renten- und Gesundheitssystem. Parallel dazu wachse der Finanzbedarf für den militärischen Schutz und die Energiewende – beides langfristige Verpflichtungen, die die öffentlichen Haushalte stark belasten. „Wenn wir die Schuldenentwicklung ignorieren, wird sie uns in wenigen Jahren einholen“, warnte Kammer eindringlich.

Nach Berechnungen des IWF würde ein Schuldenstand von 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das Wirtschaftswachstum der Region um etwa 0,5 Prozentpunkte pro Jahr dämpfen. Angesichts eines durchschnittlichen Wachstumspotenzials von etwa zwei Prozent sei das ein erheblicher Rückschlag. Eine solche Entwicklung könnte eine Abwärtsspirale auslösen: Höhere Schulden führen zu steigenden Zinsen, was wiederum die Finanzierungskosten für Staaten, Unternehmen und Haushalte erhöht – und Investitionen bremst.

Strukturreformen statt nur Sparen

Der IWF fordert daher eine Doppelstrategie: Ausgabenkürzungen und Strukturreformen, die das Wachstum ankurbeln. Als nachhaltig gilt laut Fonds eine Schuldenquote von höchstens 90 Prozent des BIP, das ist eine Schwelle, die viele europäische Länder schon heute überschreiten.

Im Durchschnitt müssten die Staaten in den kommenden fünf Jahren 3,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung einsparen, um ihre Haushalte zu stabilisieren. Hochverschuldete Länder – darunter Italien, Frankreich oder Belgien – müssten ihre Primärsalden, also den Haushalt ohne Zinszahlungen, sogar um mehr als fünf Prozentpunkte verbessern. „Das ist eine gewaltige Herausforderung“, räumte Kammer ein.

Ein Viertel der untersuchten Länder müsse demnach „über traditionelle Strategien hinausgehen“. In großen Volkswirtschaften sei es nötig, das Modell des europäischen Sozialstaats grundlegend zu überdenken. Der Wohlfahrtsstaat, so der IWF, stehe vor einem „Problem der Bezahlbarkeit“.

Neben nationalen Einschnitten sieht der IWF auch Handlungsbedarf auf europäischer Ebene. Der Binnenmarkt sei nach wie vor zu zersplittert. Nationale Vorschriften wirkten im Warenhandel „wie ein Zoll von 44 Prozent“, sagte Kammer. Eine stärkere Arbeitnehmerfreizügigkeit könne zusätzliches Wachstum schaffen: Derzeit sei es achtmal teurer, einen europäischen Arbeitnehmer zwischen zwei Mitgliedstaaten umziehen zu lassen als einen US-Bürger zwischen zwei Bundesstaaten.

Diese Forderungen knüpfen an frühere Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi an, die bereits im vergangenen Jahr umfassende Reformen des EU-Binnenmarktes angeregt hatten – bislang jedoch mit wenig Beachtung in Brüssel oder den nationalen Hauptstädten.