Auf der diesjährigen UN-Konferenz waren drei Stimmen aus Lateinamerika zu hören. Und jede war anders. Daran sind wir in Europa nicht gewöhnt, da unter den europäischen Politikern ein starker liberaler Konsens herrscht.
Der lateinamerikanische Kontinent, den die Welt oft nur als Einflussbereich Washingtons wahrnimmt, hat sich jedoch als Laboratorium unterschiedlicher Zukunftsvisionen erwiesen. Jahrzehntelang wurde über Lateinamerika gesprochen, aber kaum jemand hat wirklich zugehört. Heute ergreifen die Präsidenten selbst das Wort und sagen Dinge, die kaum jemand vom „globalen Süden” erwartet.
Für die westliche Welt steht bei jeder UN-Sitzung vor allem die Rede des amerikanischen Präsidenten im Vordergrund. Auch die diesjährige 80. Sitzung bildete da keine Ausnahme. Donald Trump enttäuschte nicht, sprach mit der üblichen Schärfe, forderte eine „sofortige Beendigung der Migration“, warnte vor dem „Niedergang des Westens“ und verteidigte Stärke und Selbstständigkeit.
Auch Emmanuel Macron erregte die Aufmerksamkeit der Medien, als er die Absicht Frankreichs bekannt gab, den Staat Palästina anzuerkennen. Und damit war für die meisten Beobachter alles vorbei.
Das ist jedoch ein typischer euro-atlantischer Irrtum. Denn die UN-Generalversammlung ist nicht nur eine Bühne für den Westen, sondern auch ein Spiegelbild dessen, wie der Rest der Welt über die Welt denkt. Und gerade Lateinamerika, das geopolitisch lange Zeit als etwas „Dazwischenliegendes” angesehen wurde, zeigte in diesem Jahr eine bemerkenswerte Vielfalt an Ideen, Emotionen und moralischen Visionen.
Lateinamerika trat in diesem Jahr bei der UNO nicht als einheitliche Stimme des globalen Südens auf, sondern als Spiegel der heutigen Welt, die nach einem neuen Sinn sucht. Petro, Lula und Milei sprachen jeweils eine andere Sprache, aber alle wollten dasselbe: dass ihre Länder nicht nur Objekte der Geschichte sind, sondern deren Schöpfer. Gerade in dieser Vielfalt liegt die wahre Stärke Lateinamerikas. Es ist nicht einheitlich, aber es wird gehört.
Petro und sein Evangelium der Gerechtigkeit
Die radikalste Rede und gleichzeitig die längste der analysierten Reden hielt der kolumbianische Präsident Gustavo Petro. Ein möglicher Grund dafür ist, dass seine vierjährige Amtszeit zu Ende geht und die kolumbianische Verfassung eine Wiederwahl verbietet.
Der Hauptschwerpunkt der Rede des kolumbianischen Präsidenten war die Situation in Gaza, die er als Völkermord betrachtet. Er hält es nicht nur für notwendig, den Konflikt zu beenden, sondern ist auch der Meinung, dass die UNO ihre Soldaten in diese Region entsenden sollte.
Seiner Meinung nach hat Donald Trump einen direkten Anteil an den Ereignissen in Gaza. Die Vorwürfe gegen den amerikanischen Präsidenten waren sehr schwerwiegend: „Trump lässt nicht nur Raketen auf junge Menschen in der Karibik fallen, sondern erlaubt auch, dass sie auf Kinder, Frauen und alte Menschen in Gaza fallen. Er macht sich zum Mittäter des Völkermords.“
Aus seinen Worten geht hervor, dass Petro die Vereinigten Staaten als Hauptträger struktureller Gewalt wahrnimmt – von Kriegen bis hin zur Drogenpolitik. In seiner Sichtweise ist der amerikanische Imperialismus ein System, nicht nur ein einzelner Präsident.
Die Feindseligkeit zwischen Trump und Petro ist gegenseitig, da dieser ihn als illegalen Drogenboss betrachtet. Der kolumbianische Staatschef lehnt diese Bezeichnung natürlich ab. Darüber hinaus griff er in seiner Rede Trumps Drogenpolitik an, als er sagte: „Die Drogenpolitik dient nicht dazu, den Kokainfluss in die USA zu stoppen. Sie dient dazu, die Völker des Südens zu kontrollieren.“
Petro ist jedoch nicht ganz der altmodische Typ eines lateinamerikanischen linken Politikers antiimperialistischer Prägung. Er hat seine antiamerikanische Haltung um den Kampf gegen den Klimawandel erweitert. Die Welteliten sind nicht bereit, auf Kohle, Öl und finanzielle Gewinne zu verzichten, und deshalb steuert die Menschheit auf die Selbstzerstörung zu.
Der kolumbianische Präsident schlägt daher einen globalen Plan zur Dekarbonisierung und zum Schuldenerlass für arme Länder im Austausch für ökologische Investitionen vor. Nach diesen Äußerungen überrascht es niemanden, dass Petro zu einer Revolution der gesamten Menschheit aufgerufen hat, die die untergehenden Nationalstaaten ersetzen soll.
Dieser Politiker verkörpert somit das neue Gesicht der lateinamerikanischen Linken: nach wie vor antiimperialistisch, aber mit globalen Ambitionen. Eine Linke, die sich nicht mehr ausschließlich auf den Klassenkampf konzentriert, sondern den Kampf ums Überleben des Planeten propagiert.
Lula da Silva: Reformer in Zeiten des Zerfalls
Im Vergleich zum kolumbianischen Präsidenten wirkte die Rede des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva recht gemäßigt, obwohl Lula ebenfalls ein linker Politiker ist. Er stützte seine Rede vor der UNO auf die Verteidigung einer multipolaren Welt, in der die Souveränität jedes Landes respektiert werden muss und die Staaten sich gegen jede Einmischung von außen wehren sollten.
Lula machte damit deutlich, dass er sich im Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro nicht von Donald Trump einschüchtern lässt, der ein Verbündeter dieses Präsidenten war.
Selbst diese sehr kritische Äußerung gegenüber den USA bedeutete nicht automatisch eine Feindschaft mit Trump. Der Chef des Weißen Hauses hält Lula für einen sympathischen Kerl, den er gerne treffen würde. Brasilien ist ein zu großes Land, als dass die USA es sich leisten könnten, es zu verärgern und damit eine noch stärkere Annäherung an die BRICS-Gruppe zu riskieren.
Lula erinnerte auch daran, dass in der heutigen Welt oft von Kriegen die Rede ist, aber beispielsweise der Kampf gegen den Hunger vergessen wird. Für ihn ist dies der einzige Krieg, den alle gewinnen können.
Der brasilianische Präsident forderte auch eine Regulierung des Internets und der künstlichen Intelligenz. Südamerika ist kein technologisch rückständiger Kontinent, aber digitale Probleme betreffen ihn genauso wie den Rest der Welt. Relative Mäßigung zeigte sich auch in der Haltung des brasilianischen Präsidenten zur Lage in Gaza, wo seiner Meinung nach ein Völkermord stattfindet, der jedoch kein direktes Eingreifen der UNO erfordert.
Javier Milei: Ketzer des linken Westens
Lateinamerika ist jedoch nicht nur eine Ansammlung linksgerichteter Präsidenten. Auch der argentinische Präsident Javier Milei ergriff in der UNO das Wort.
Im Gegensatz zu seinen „Nachbarn” machte er bereits durch die Art und Weise seiner Rede deutlich, dass die Vereinigten Staaten und vor allem Donald Trump für ihn mehr als nur Verbündete sind. Milei begann nämlich mit scharfer Kritik an der Organisation der Vereinten Nationen selbst.
Seiner Meinung nach habe diese Institution ihren ursprünglichen liberalen Sinn verloren und sich in ein Instrument tyrannischer Bürokratie verwandelt. Er erklärte: „Wir brauchen nicht mehr Bürokraten in New York, wir brauchen weniger Steuern und mehr Freiheit.“
Milei zufolge hat sich die UNO von ihrer Aufgabe, bewaffnete Konflikte zwischen Staaten zu lösen, entfernt und verbreitet stattdessen ihre eigene Werteagenda, beispielsweise den Kampf gegen den Klimawandel.
Dieser Ideologie stellt er die Rückkehr zum grundlegenden Kriterium für den Erfolg der Politik gegenüber, nämlich das Wirtschaftswachstum. Der argentinische Präsident unterstützte eindeutig Trumps Vorschlag für einen härteren Kampf gegen die Migration und würdigte auch dessen Bemühungen, die linke Ideologie aus den amerikanischen Institutionen zu entfernen.
Manchmal ist jedoch nicht das, was ein Politiker sagt, am wichtigsten, sondern das, was er vermeidet. Milei äußerte sich in seiner Rede praktisch nicht zu internationalen Krisen, mit Ausnahme seiner Bewunderung für Trump. Die Situation in Gaza überging er mit diplomatischem Schweigen. Diese Geste sagt mehr über ihn aus als tausend Worte.