Die Ukraine wird vom aktuellen Korruptionsskandal massiv erschüttert - doch auch in Brüssel und Berlin sorgt der Kriminalfall für Alarmstimmung: Die Bereitschaft der Europäer weiter Milliardensummen an eine Regierung zu überweisen, die mutmaßlich von den eigenen Ministern und von Bekannten des Präsidenten bestohlen wird, könnte sich deutlich verringern.
Im Zentrum der sogenannten „Operation Midas“ stehen Vorwürfe massiver Veruntreuung von Geldern beim staatlichen Atomenergieunternehmen Enerhoatom (statement.at hat berichtet) . Ausgerechnet in einer Zeit, in der russische Angriffe die Energieversorgung des Landes immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs bringen.
Nach Angaben der ukrainischen Antikorruptionsbehörden NABU und SAPO sollen hunderte Millionen Dollar, die für Schutzmaßnahmen und den Wiederaufbau kritischer Infrastruktur vorgesehen waren, systematisch zweckentfremdet worden sein. Die Ermittler veröffentlichen seit Tagen Tonaufnahmen, in denen mutmaßliche Beteiligte mit Codenamen wie „Karlson“, „Sugerman“ oder „Professor“ über Bestechungszahlungen sprechen. Die Enthüllungen zeichnen ein düsteres Bild der Machtverflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und staatlichen Konzernen.
Im Mittelpunkt steht Timur Minditsch, ein früherer Geschäftspartner von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Ihm wird nachgesagt, das Netzwerk aus Bestechung und Geldwäsche koordiniert zu haben. Medienberichten zufolge soll auch ein hochrangiger FBI-Beamter zeitweise an den Ermittlungen in Kiew beteiligt gewesen sein – offenbar zur Unterstützung bei der internationalen Spurensicherung, da ein Teil der Gelder über ausländische Firmenbeteiligungen und Immobilienprojekte gewaschen worden sein soll. Offiziell bestätigt ist die US-Beteiligung bislang jedoch nicht.
Anklage gegen acht Tatverdächtige
Timur Minditsch und der Geschäftsmann Oleksandr Tsukerman sollen das Land fluchtartig verlassen haben, kurz bevor Ministerpräsidentin Julia Swiridenko Sanktionen gegen beide verhängte. Zeitgleich forderte Präsident Selenskyj den Rücktritt mehrerer Minister, darunter Justizminister Herman Haluschtschenko, seine Nachfolgerin im Energieministerium Switlana Hrintschuk sowie den früheren Vizeregierungschef Olexi Tschernischow, statement.at berichtete. Gegen acht Personen wurde inzwischen Anklage erhoben, fünf davon sitzen in Untersuchungshaft.
Brisant ist vor allem, dass der Fall gleich zwei Schlüsselbranchen betrifft: Energie und Rüstung. Zulieferer von Enerhoatom berichten, sie seien unter Druck gesetzt worden, zwischen zehn und fünfzehn Prozent ihrer Vertragssummen als „Zwangsabgabe“ zu leisten. Wer sich weigerte, verlor Aufträge oder erhielt keine Zahlungen mehr. Der Schaden soll sich laut NABU auf 100 Millionen US-Dollar belaufen.
Besonders empörend: Ein abgehörtes Gespräch belegt, dass hochrangige Beteiligte den Bau von Schutzanlagen für Umspannwerke ablehnten – mit dem zynischen Hinweis, solche Projekte seien „wertlos, solange sie keine Gewinne abwerfen“. Nur Tage später zerstörten russische Raketen erneut mehrere Energieanlagen.
Auch die Verhaftung des ehemaligen Chefs des Netzbetreibers Ukrenerho, Wolodymyr Kudrizkyj, sorgt für Aufsehen. Er war wegen angeblicher Versäumnisse beim Schutz von Anlagen entlassen worden – er ist aber jener Manager, dem es gelungen war, trotz massiver russischer Angriffe die Stromversorgung weitgehend stabil zu halten. Beobachter vermuten, Kudrizkyj diene nun als politischer Sündenbock, während die wahren Profiteure im Hintergrund bleiben.
Gattin des Präsidenten ist Patin eines Kindes von Tschernischow
Die Affäre droht direkt in den Präsidentenpalast in Kiew auszustrahlen: Tschernischow, einer der Beschuldigten, gilt als enger Vertrauter der Familie Selenskyj, Präsidentengattin Olena ist Patin seines Kindes. Timur Minditsch ist ebenso ein guter Bekannter von Wolodymyr Selenskyj, der in dessen Wohnung auch Geburtstag feierte. Antikorruptionsaktivistin Daria Kalenjuk erinnert daran: Die Regierung habe in den vergangenen Monaten versucht, die unabhängigen Ermittlungsbehörden unter politische Kontrolle zu bringen, um unliebsame Untersuchungen zu bremsen.
Die „Operation Midas“ ist längst mehr als nur ein Korruptionsfall: Die nun aufgeflogene Kriminalität der politischen Freunde Selenskyjs könnte die gesamte Regierung zu Fall bringen.