Die französische Spur: Der Fall wurde zu gründlich aufgeklärt

Der Tod von Jean-Luc Brunel schließt den französischen Teil der Epstein-Affäre ab und hinterlässt nur leere Stellen.

Jean-Luc Brunel. Foto: MDP-Robert Espalieu / Starface / Profimedia

Jean-Luc Brunel. Foto: MDP-Robert Espalieu / Starface / Profimedia

Sex, Geld und Macht. Die drei Ebenen der Pyramide, die den Fall Jeffrey Epstein definieren. Je höher wir steigen, desto mehr verschleiert sich alles und desto schneller wachsen die Verschwörungstheorien. Dennoch begann sein Fall nicht an der Spitze, sondern auf der untersten, banalsten Ebene des gesamten Systems.

Im März 2005 begann die Polizei in Palm Beach, Epsteins Aktivitäten zu untersuchen, nachdem bekannt wurde, dass ein vierzehnjähriges Mädchen unter dem Vorwand einer Massage in sein Anwesen gebracht worden war. Bald stellte sich heraus, dass dies keine Ausnahme war, sondern ein routinemäßiger Mechanismus zur Anwerbung junger Frauen. Eine spätere Polizeirazzia brachte Fotos und Videos ans Licht, die darauf hindeuteten, dass es in Epsteins Haus nicht nur um sexuelle Unterhaltung ging, sondern um einen Industriezweig, in dem Mädchen als Konsumgüter behandelt wurden.

Epstein wurde am 10. August 2019 tot in seiner Zelle in Manhattan aufgefunden. Die Ermittlungen deckten jedoch eine weitere wichtige Ebene seiner Aktivitäten auf: ein Netzwerk von „Anwerbern”, zu dem neben Ghislaine Maxwell auch der Franzose Jean-Luc Brunel gehörte. So entstand der sogenannte französische Zweig des Falls. Und genau wie Epstein kam auch Brunel ums Leben, bevor er vor Gericht gestellt werden konnte. Am 19. Februar 2022 beging er im Gefängnis La Santé Selbstmord.

Die Anfänge: geboren für die Welt der Privilegierten

Seine Herkunft prädestinierte ihn dafür, sich in den besseren Kreisen der Gesellschaft zu bewegen. Sein Vater besaß eine Immobilienagentur, ein Umfeld mit stabilem und gut vernetztem Kapital. Jean-Luc Brunel war sich schon in jungen Jahren über seine Karriere im Klaren: In den 70er Jahren gründete er in Paris die Agentur Karin Models. Diese suchte oft buchstäblich auf der Straße nach neuen Gesichtern, und Brunel hatte ein Talent dafür, zukünftige Stars zu erkennen. Er war sofort erfolgreich.

Seinen Aufstieg beschleunigte die Partnerschaft mit dem Sänger und Tänzer Claude François, genannt Cloclo. Dieser war bekannt für seine Anziehungskraft und seine Tausenden von Liebesbeziehungen – eine Atmosphäre, in der für junge Frauen die Grenze zwischen Modeln und Ausbeutung nicht immer klar war. Brunel hatte daher keinen Mangel an Bewerberinnen und wurde nach und nach zu einem bedeutenden Namen im französischen Modelbusiness.

1995 expandierte er in die USA, wo er Karin Models of America gründete und kurzzeitig mit der renommierten Agentur Ford zusammenarbeitete. Er brachte Namen wie Christy Turlington, Sharon Stone oder Milla Jovovich in die Branche. Es schien, als würde seine Karriere unbegrenzt wachsen.

Der Wendepunkt kam 1999. Die Fernsehsendung 60 Minutes auf CBS veröffentlichte Aussagen von Models über Vergewaltigungen und Drogenverabreichungen. Brunel bestritt die Vorwürfe, gab jedoch seine Kokainsucht zu. Die Agentur Ford beendete sofort die Zusammenarbeit mit ihm. Mit seinem ramponierten Ruf hatte er in der Branche immer weniger Platz und zog im Jahr 2000 endgültig von Europa in die USA.

Maxwell und Epstein: Rückkehr ins Spiel

Nach seinem Weggang aus Europa wandte er sich an seine alte Bekannte Ghislaine Maxwell, die er seit den 80er Jahren kannte. Sie brachte ihn mit Jeffrey Epstein in Kontakt. Gemeinsam gründeten sie die Agentur MC2, die nicht mehr Models im herkömmlichen Sinne suchte, sondern vor allem junge Mädchen für ihr Geschäftsmodell.

Epstein investierte beträchtliche finanzielle Mittel in Brunels Projekte, und die beiden Männer wurden eng miteinander verbunden. Flugaufzeichnungen zeigen, dass Brunel zu den häufigsten Passagieren von Epsteins Privatflügen zwischen Paris, New York und seiner Karibikinsel gehörte.

Dank der Finanzspritzen wuchs Brunels Agentur schnell. Er eröffnete Niederlassungen in New York, Miami und Tel Aviv. Alle wurden 2019 geschlossen. Später gründete er zwei weitere Agenturen: The Identity Models in New York und Mother Agency in Kiew.

Epstein konnte die Zusammenarbeit mit Brunel nicht genug loben. Laut der Aussage der Anwältin der Opfer sexuellen Missbrauchs, Virginia Giuffre (die sich im April dieses Jahres im Alter von 41 Jahren angeblich das Leben genommen hat), behauptete Epstein, dass er mehr als tausend Mädchen von Brunel bekommen habe. Giuffre gab außerdem an, dass Brunel drei zwölfjährige französische Mädchen als „Geburtstagsgeschenk“ mitgebracht habe, angeblich über ein Modelangebot.

Brunel war ein häufiger Teilnehmer an Epsteins Flügen und Aufenthalten auf der Karibikinsel. Ihre Freundschaft zerbrach jedoch schließlich. Im Jahr 2015 erklärte Brunel, dass ihm die Verbindung zu Epstein mehrere wichtige Verträge gekostet habe.

Im Jahr 2019 leiteten die französischen Behörden eine Untersuchung gegen Brunel im Zusammenhang mit Epstein ein. Der Franzose versuchte, unterzutauchen, und wurde mehrere Monate lang von den Behörden gesucht. Schließlich wurde er am 17. Dezember 2020 am Pariser Flughafen festgenommen, als er versuchte, ein Flugzeug nach Senegal zu besteigen.

Perfekt aufgeräumt

Seinen Anwälten zufolge litt er psychisch sehr unter der Situation im Gefängnis. Sie neigten zu der offiziellen Version, dass sein Tod im Gefängnis La Santé ein Selbstmord war. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Gerichtsverfahren zwei seiner Hauptakteure durch Selbstmord im Gefängnis sterben, auf dem Niveau eines statistischen Fehlers. Sein Tod löste daher eine neue Welle des Interesses an dem gesamten Fall aus.

Im Dezember 2021 wurde Brunel überraschenderweise für vier Tage unter gerichtlicher Aufsicht freigelassen. Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung jedoch sofort auf und ordnete seine rasche Rückkehr in die Haft an. Der Grund für die ursprüngliche Freilassung wurde nie überzeugend erklärt. Der Journalist Karl Zéro interpretierte dies als Versuch, ein Treffen mit jemandem zu ermöglichen, der nicht zu einem offiziellen Besuch im Gefängnis kommen konnte.

Die ganze Epstein-Affäre ist ein Paradies für Desinformanten und gleichzeitig die Hölle für jeden, der die Wahrheit herausfinden will. Brunels Selbstmord, der vor Abschluss der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens erfolgte, hat den epistemischen Paradoxon zementiert: Die Besessenheit vom Fact-Checking bedeutet, dass ohne Urteil jede Behauptung „unbestätigt” und damit quasi nicht existent ist.

Infolgedessen bleibt nicht nur eine Leere nach Gerechtigkeit, sondern auch nach Wahrheit selbst. Ein System, das Dinge nicht zu Ende bringen kann, wird zu einer Fabrik der Unsicherheit. Und genau in diesem Nebel gedeihen Raubtiere, aber auch ihre Gönner am besten.