Wie bedrohlich ist Russland wirklich? Eine neue, umfassende Erhebung liefert ein erstaunlich gespaltenes Bild der deutschen Bevölkerung. Die repräsentative Studie „The Berlin Pulse“ der Körber-Stiftung, durchgeführt vom Meinungsforschungsinstitut Forsa für die WELT (1500 Bürger ab 18 Jahren), entwirft ein Lagebild, das so widersprüchlich ist wie selten zuvor – das außenpolitische Koordinatensystem der Deutschen dürfte in Bewegung geraten sein.
Trotz des inzwischen jahrelangen Angriffskriegs gegen die Ukraine, Berichten über russische Spionagevorfälle, mutmaßliche Drohnenüberflüge und hybride Operationen sehen 52 Prozent der Befragten Russland als „keine“ oder nur „geringe Bedrohung“. Darunter ordnen 35 Prozent die Gefahr als gering ein, 17 Prozent sogar als völlig unbedenklich. Eine überraschend gelassene Einschätzung angesichts der sicherheitspolitischen Debatten der vergangenen Monate und der medialen Begleitung.
Gleichzeitig wächst jedoch das Lager jener, die Russland durchaus als militärische Gefahr wahrnehmen. 47 Prozent sprechen inzwischen von einer „großen Bedrohung“. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr, als dieser Anteil noch bei 39 Prozent lag. Besonders stark ausgeprägt ist die Sorge bei Anhängern von SPD, Union und Grünen.
Ganz anders das Bild bei AfD und BSW: Dort sehen 72 Prozent keine oder nur eine geringe Bedrohung durch Moskau. Die politischen Gräben verlaufen damit klar entlang parteipolitischer Linien.
Auch beim Thema Desinformation zeigt sich eine wachsende Sensibilität: 54 Prozent der Deutschen befürchten, dass Russland aktiv versucht, die öffentliche Meinung hierzulande zu beeinflussen. Doch was folgt daraus politisch? Das Land ist gespalten: 48 Prozent wollen mehr internationales Engagement Deutschlands, 43 Prozent mehr Zurückhaltung. Besonders scharf trennen sich Ost und West: Während im Osten 52 Prozent für eine zurückhaltendere Außenpolitik plädieren, sprechen sich im Westen 51 Prozent für ein stärkeres Engagement aus.
Breite Mehrheit für Diplomatie, nur 17 % für militärische Stärke
Doch Engagement ist für die meisten kein militärischer Begriff. 72 Prozent verbinden es primär mit Diplomatie – nur 17 Prozent mit militärischer Stärke. Und obwohl eine Mehrheit die geplante Verdoppelung der deutschen Verteidigungsausgaben in den kommenden zehn Jahren befürwortet, lehnen 61 Prozent eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa ab.
Für zusätzliche Brisanz sorgt ein dramatischer Stimmungseinbruch gegenüber den USA: 73 Prozent bewerten die Beziehung als schlecht. Das ist ein gewaltiger Umschwung, wenn man bedenkt, dass im Jahr 2024 unter Präsident Biden noch 74 Prozent die Partnerschaft positiv sahen. Erstmals seit drei Jahren betrachten die Deutschen die USA nicht mehr als wichtigsten außenpolitischen Partner.
Die Ergebnisse der Studie zeigen ein Land im außenpolitischen Zwiespalt: verunsichert, kontrovers, hin- und hergerissen zwischen historischer Verantwortung, globalen Krisen und der Suche nach einem neuen Platz in einer veränderten Weltordnung.