Die bequeme europäische Illusion

Europa glaubt, dass Moral und Sanktionen ausreichen. Die Zahlen und Vance zeigen das Gegenteil: Brüssel träumt, Moskau rechnet, aber wir bezahlen dafür.

J. D. Vance. Foto: Anna Moneymaker/Getty Images

J. D. Vance. Foto: Anna Moneymaker/Getty Images

Es gibt zwei Arten von Blindheit. Die erste resultiert aus der Unfähigkeit, Fehler zu erkennen, also aus einem einfachen Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Die zweite aus dem Willen, Fehler nicht zu sehen. Im Falle Europas handelt es sich leider um die zweite Art.

Der Kontinent hat sich in den letzten Jahren einen bequemen Mythos darüber aufgebaut, wie die heutige Welt funktioniert. Die europäischen Politiker sind der Illusion erlegen, dass es ausreicht, an die eigene moralische Überlegenheit zu glauben, Sanktionen zu verhängen, Resolutionen und Geld zu schicken und zu hoffen, dass sich die geopolitische Realität irgendwann anpasst.

JD Vance hat diesen Mythos mit einem einzigen Satz zunichte gemacht. Unverblümt, vielleicht sogar unnötig direkt, aber für Europa unangenehm präzise. Der amerikanische Vizepräsident hat in einem sozialen Netzwerk einen Beitrag veröffentlicht, über den die meisten europäischen Politiker nachdenken sollten.

„Es gibt die Illusion, dass, wenn wir (Kiew) mehr Geld, mehr Waffen geben oder mehr Sanktionen (gegen Russland) verhängen, der Sieg (der Ukraine) in greifbarer Nähe ist. Frieden kann nicht von erfolglosen Diplomaten oder Politikern durchgesetzt werden, die in einer Fantasiewelt leben. Das können nur kluge Menschen, die in der realen Welt leben.“

Leider sind diese Worte angesichts der Reaktionen der europäischen Politiker auf taube Ohren gestoßen. Das hindert uns jedoch nicht daran, einen Blick auf die Zahlen und Fakten zu werfen. Denn gerade eine rationale Analyse ermöglicht es uns, uns aus der Gefangenschaft unserer eigenen falschen Vorstellungen zu befreien. Die Hauptursache für die Blindheit Europas lässt sich kurz und bündig wie folgt zusammenfassen: Die Europäer sehen die Welt so, wie sie sie sich vorstellen, und nicht so, wie sie wirklich ist.

Geld, das es nicht gibt

Beginnen wir der Reihe nach mit dem Geld. Die Europäische Union hat in den knapp vier Jahren seit Beginn des offenen Konflikts nach Schätzungen insgesamt rund 187 Milliarden Euro an Hilfe bereitgestellt. An sich erscheint dieser Betrag astronomisch. Das ist mehr als das jährliche BIP der Slowakei [das nominale BIP erreichte 2024 knapp 130 Milliarden Euro, Anm. d. Red.] und fast ein Drittel des Marshallplans, umgerechnet auf heutige Preise.

Andererseits ist es viel weniger als das, was Russland ausgibt. Für das Jahr 2025 sieht der russische Haushalt Ausgaben in Höhe von 119 bis 137 Milliarden Euro vor. Europa gibt also in Wirklichkeit nicht einmal den gleichen Betrag aus wie Russland. Vances Aussage war also noch gnädig gegenüber dem alten Kontinent. Europa schickt nicht genug Geld, um eine deutliche Veränderung an der Front erwarten zu können. Selbst wenn es seine Ausgaben erhöhen würde, würde es nur das ausgleichen, was Russland gibt. Europa müsste viel mehr schicken.

Und hier taucht ein weiteres Problem auf: Der alte Kontinent hat dieses Geld nicht. Kein Staat kann es sich politisch leisten, die Steuern zu erhöhen oder Kürzungen in den eigenen Haushalten vorzunehmen. Die einzige Möglichkeit bleibt also, Kredite aufzunehmen. Zu einer Zeit, in der Ratingagenturen die Bonität Frankreichs herabstufen, ist das keine besonders gute Idee.

Waffen ohne Strategie

Die zweite Illusion betrifft Waffen. Wenn wir uns die Situation genauer ansehen, stellen wir fest, dass es sich nicht um eine einzige Illusion handelt, sondern um eine ganze Reihe falscher Vorstellungen. Die erste kann als ständiges Streben nach einem „Gamechanger” für den gesamten Krieg bezeichnet werden.

Am Anfang waren es türkische Bayraktar-Drohnen, die den Krieg gewinnen sollten. Es folgten Abrams-Panzer und deutsche Leopard-Panzer. Das Zögern einiger Länder bei deren Lieferung wurde damit begründet, dass es sich um so mächtige Waffen handele, die automatisch den Verlauf des Krieges wenden würden, und dass einige Länder zögerten, ob sie diese historische Verantwortung tragen könnten.

Die Wahrheit stellte sich jedoch als viel prosaischer heraus. Die Lieferungen von Leopard- und Abrams-Panzern erwiesen sich als schlechte Idee, da diese schweren Panzer auf einem von Drohnen und Präzisionsmunition dominierten Schlachtfeld zu teuer, zu wartungsintensiv und zu anfällig sind, als dass ihr Nutzen die Kosten rechtfertigen würde.

Das Gleiche gilt für die Forderung nach Tomahawk-Raketen, die in der Ukraine letztendlich gar nicht zum Einsatz kommen werden. All diese medialen „Gamechanger“ zeigen, dass Europa sie eher als innenpolitische PR genutzt hat. Es war eine Möglichkeit, die Hilfe zu rechtfertigen und den Anschein einer sinnvollen Fortsetzung des Kampfes zu wahren. Das Wesentliche fehlte jedoch: eine durchdachte Militärstrategie.

Für die Frage, wie diese technologischen Errungenschaften in das Gesamtkonzept der Kriegsführung passen, blieb keine Zeit mehr. Europa verwechselt Lautstärke mit Strategie: mehr Erklärungen, mehr Verurteilungen, mehr Sanktionen, aber nur wenige Veränderungen im Kräfteverhältnis, die sich tatsächlich an der Front bemerkbar machen würden.

Darüber hinaus hat der alte Kontinent die Bedeutung der Waffen- und Munitionsproduktion unterschätzt. Zu Beginn des Krieges wurde dieses Problem durch die Leergutung der eigenen Militärdepots verdeckt. Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch, dass die Rüstungskapazitäten Russlands und Europas auf einem völlig anderen Niveau liegen.

Russland hat Europa nicht nur eine Lektion über die Bedeutung der industriellen Produktion erteilt, sondern vor allem über die Nutzung dieses Vorteils in der Strategie. Seit 2023 gibt es offen der Vernichtung der ukrainischen Streitkräfte den Vorzug vor territorialen Gewinnen: Seine Strategie des „Fleischwolfs” zielt darauf ab, die ukrainische Armee zu zermürben, nicht Grenzen zu verschieben. Die europäischen Politiker weigern sich jedoch, diese Tatsache anzuerkennen, und behaupten gerne, dass die russischen Maßnahmen „minimal” seien.

Als wäre dies ein Beweis für die Schwäche Russlands und nicht für seine Absichten. Um ihr Publikum noch mehr zu verwirren, fügen sie hinzu, dass wir fieberhaft aufrüsten müssen, sonst würde die russische Armee in Mitteleuropa einmarschieren. Dabei stört sie nicht, dass bei der derzeitigen Geschwindigkeit der russischen Vorgehensweise eine solche Invasion nicht einmal zu Putins Lebzeiten stattfinden würde.

Sanktionen, die vor allem uns schaden

Der letzte fatale Fehler ist die Frage der Sanktionen. Seit Beginn der Invasion im Jahr 2022 hat die EU mindestens 19 Sanktionspakete verabschiedet. Das erste Paket wurde damals vom französischen Finanzminister Bruno Le Maire mit den Worten kommentiert, es werde so stark sein, dass es „die russische Wirtschaft in die Knie zwingen“ werde. Das ist nicht geschehen.

Die ursprüngliche Vorstellung war, dass der wirtschaftliche Schock die russischen Bürger aufgrund des starken Rückgangs ihres Lebensstandards dazu zwingen würde, sich gegen den Kreml zu wenden. Auch dieser Plan ist nicht aufgegangen. Das bedeutet nicht, dass die europäischen Sanktionen nicht schmerzen, aber der Schock war nicht stark genug, um einen Regimewechsel herbeizuführen.

Hier zeigte sich die wahre Natur der europäischen Blindheit: Als der gewünschte Effekt ausblieb, suchte die Union nicht nach anderen Formen des Drucks, sondern erweiterte lediglich die Sanktionslisten.

Laut den Statistiken „EU trade with Russia – latest developments“ gingen die EU-Exporte nach Russland zwischen dem ersten Quartal 2022 und dem zweiten Quartal 2025 um 61 Prozent zurück, während die Importe aus Russland um 89 Prozent sanken. Die Europäische Union fand jedoch keinen angemessenen Ersatz für den Verlust der russischen Märkte. Die Exporte in andere Länder stiegen nur minimal.

Russland hingegen gelang es, den Exportrückgang schnell nach Indien und China umzulenken. Da es sich dabei vor allem um Öl, Gas und andere Rohstoffe handelt, ist eine solche Umleitung viel einfacher als die Erschließung neuer Märkte für komplexe europäische Produkte.

Europa hoffte blindlings, dass die Sanktionen Russland brechen würden, und ignorierte dabei den eigenen Verlust des Zugangs zu billiger Energie. Der alte Kontinent mag Vances Worte als Zynismus oder als den berühmten amerikanischen Pragmatismus abtun, aber er täte viel besser daran, sie als treffende Diagnose seines mentalen Zustands anzunehmen. Denn Träumer sind nicht diejenigen, die auf die Realität hinweisen, sondern diejenigen, die glauben, dass sich die Welt allein deshalb ändern wird, weil Brüssel es so will.