Kiews Korruptions-Skandal: Rücktritte, Festnahmen, Flucht - und was wusste Selenskyj?
Die Ukraine ist in ihrer größten politischen Krise seit Beginn des Krieges gegen Russland. Ein umfassender Korruptionsskandal im Energiesektor, dem die Ermittler den Codenamen „Operation Midas“ gaben, hat das Kabinett von Präsident Wolodymyr Selenskyj massiv erschüttert.
Mehrere hochrangige Minister mussten zurücktreten, darunter der Justizminister und die Energieministerin, während der mutmaßliche Drahtzieher der Korruption, der bekannte Multi-Millionär und Geschäftsmann Tymur Mindich das Land fluchtartig verlassen hat. Hier alle bisher bekannten Fakten zum Politkrimi in Kiew:
Die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) und das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) werfen den Beteiligten vor, mehr als 100 Millionen US-Dollar durch Schmiergelder, Geldwäsche und illegale Vergaben in der staatlichen Kernenergiegesellschaft Energoatom veruntreut zu haben.
Der Skandal wirft ein grelles Licht auf die Nähe zwischen Selenskyj und Teilen der Geschäftswelt und bedroht die Glaubwürdigkeit der ukrainischen Führung inmitten anhaltender russischer Angriffe auf die Energieinfrastruktur. Der Skandal kam am 10. November 2025 ans Licht, als NABU-Agenten Dutzende Hausdurchsuchungen durchführten. Sie hatten zuvor bereits mehr als 1000 Stunden Abhörprotokolle gespeichert. In der Wohnung von Tymur Mindich in Kiew fotografierten sie bei ihrer Razzia dessen goldene Toilette und Säcke voller Bargeld – sie sind nun Symbole für die ukrainische Korruption.
Flucht aus der Ukraine
Tymur Mindich (46) gilt als enger Vertrauter und ehemaliger Geschäftspartner Selenskyjs. Er ist Mitbesitzer der TV-Produktionsfirma Kvartal 95, die Selenskyj als Komiker berühmt machte und ihm den Sprung in die Politik ebnete. Unter dem Spitznamen „Karlsson“ soll Mindich laut den Abhör-Protokollen Gespräche über Schmiergelder von 10 bis 15 Prozent auf Verträge zum Schutz der Energieinfrastruktur geführt haben. Die Umsetzung dieser Verträge im Wert von vielen Millionen Euro wären dringend notwendig gewesen, um Stromversorgungs-Anlagen vor russischen Raketenangriffen zu sichern – doch stattdessen floss das Geld in private Taschen.

Mindich floh nur wenige Stunden vor den Razzien aus der Ukraine und soll sich nun in Österreich oder in Israel aufhalten, er besitzt auch die israelische Staatsbürgerschaft. Die ukrainische Regierung hat Sanktionen gegen ihn und seinen Geschäftspartner Oleksandr Tsukerman verhängt, der ebenfalls das Land verlassen hat.
Oleksandr Tsukerman, ein einflussreicher Unternehmer, wird beschuldigt, Mindich bei der Geldwäsche geholfen zu haben, einschließlich Finanztransfers nach Russland – ein Vorwurf, der die Absurdität des Ganzen unterstreicht. „Mindich nutzte seine engen Beziehungen zum Präsidenten, um Wettbewerbe zu umgehen und lukrative Aufträge an verbundene Firmen zu vergeben“, erklärte Serhij Sawyzkyj, ein Staatsanwalt der SAPO, vor Gericht. Die Firma Fire Point, früher eine Casting-Agentur für Kvartal 95, soll unter Mindichs Einfluss zu einem Rüstungskonzern aufgestiegen sein und bis zu zehn Prozent der Verteidigungsausgaben der Ukraine kassiert haben – ohne echte Wettbewerber.
Festnahmen in Kiew
Die Festnahmen und Anklagen folgten kurz nach den Razzien. Fünf Personen wurden in Haft genommen, darunter Dmytr Basow, der Sicherheitsdirektor von Energoatom, und Ihor Myroniuk, der Berater der Energieministerin. Sie werden beschuldigt, Mindich geholfen zu haben, die Geldströme zu kontrollieren und zu legalisieren.
Insgesamt sind acht Personen formell angeklagt, darunter der ehemalige stellvertretende Premierminister Oleksij Tschernyschov (Spitzname „Che Guevara“ in den Aufnahmen). Noch vor wenigen Monaten posierte Tschernyschov für Handshake-Fotos mit dem österreichischen Innenminister Gerhard Karner und auch EU-Migrations-Kommissar Magnus Brunner.
Der jetzige Generalsekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Rustem Umerow wurde zu dieser Causa als Zeuge einvernommen.
Tschernyschov, der zuvor im Verteidigungsministerium tätig war, soll an den Schmiergeldkreisläufen beteiligt gewesen sein. „Das ist ein kriminelles Netzwerk auf höchster Ebene“, sagte Oleksandr Abakumow, Leiter des NABU-Untersuchungsteams, im ukrainischen Staatsfernsehen. Die Ermittler fanden Beweise für eine „Schmiergeld-Waschmaschine“, die illegale Einnahmen in legale Kanäle spülte, darunter Immobilien, Düngemittelhandel und sogar Diamantengeschäfte.

Rücktritte von zwei Ministern
Präsident Selenskyj forderte dann am 12. November die sofortige Entlassung der Justizministerin und des Energieministers. Herman Haluschenko, der von 2021 bis Juli 2025 Energieminister war und dann Justizminister wurde, trat als Erster zurück. Er soll „persönliche Vorteile“ von Mindich erhalten haben, um Geldflüsse im Energiesektor zu lenken. Haluschenko, der zuvor Vizepräsident von Energoatom war und in dieser Funktion auch Millionen-Hilfen aus Österreich übernommen hat, wurde suspendiert, er leugnet jedoch die Vorwürfe: „Ich werde mich vor Gericht wehren.“
Seine Nachfolgerin als Energieministerin, Switlana Hrynchuk, reichte ebenfalls ihren Rücktritt ein. Sie hatte das Ressort erst seit Juli 2025 geleitet und wird beschuldigt, unter Mindichs Einfluss gestanden zu haben. „In meiner Tätigkeit gab es keine Gesetzesverstöße“, schrieb sie auf Social Media. Die Rücktritte wurden von Premierministerin Julija Swyridenko bestätigt, die zudem Sanktionsvorschläge gegen Mindich und Tsukerman einreichte. Am 19. November entließ das Parlament beide Minister offiziell.
Der Skandal erreichte aber nun auch den engsten Kreis um Wolodymyr Selenskyj: Andrij Jermak, der mächtige Leiter des Präsidialamts und Selenskyjs „rechte Hand“, trat am 28. November zurück – nur Stunden nach Razzien in seiner Residenz.
Jermak, der als zweitmächtigster Mann im Land galt, soll Verbindungen zur „Dynasty-Kooperative“ gehabt haben, einem angeblichen Kanal für Geldwäsche im Zusammenhang mit Mindich. Er kooperierte mit den Ermittlern, doch die Oppositionsparteien forderten den Rücktritt des gesamten Kabinetts.
„Das ist ein Erdbeben“, sagte Jurij Mykolow, ein investigativer Journalist in Kiew. Der Skandal erfasst auch den Sozialminister Denys Ulyutin, der ebenfalls ein enger Freund Mindich ist; 74 Millionen Dollar humanitärer Hilfe für Renten und Stromnetze sollen über Scheinfirmen verschwunden sein.
Für Selenskyj, der 2019 mit dem Versprechen antrat, die „Epoche der Diebe“ zu beenden, ist das alles eine politische Katastrophe. Er distanzierte sich prompt von allen Bekannten: „Der Präsident eines Kriegslandes kann keine Freunde haben.“ Doch Kritiker wie das Antikorruptionszentrum der Ukraine werfen ihm vor, im Juli 2025 versucht zu haben, NABU und SAPO einzuschränken – ein Gesetzentwurf, der nach Massenprotesten scheiterte. Warum hat Selenskyj dieses Vorgehen vorangetrieben?
Der ungeheuerliche Skandal gefährdet die westliche Unterstützung: Die EU hat weitere 50 Milliarden Euro an Finanzhilfe zugesagt, doch die aufgedeckte Korruption könnte das blockieren. „Das ist nämlich kein Einzelfall, sondern systemisch“, warnt die Aktivistin Tetjana Schewtschuk.

