Der österreichische Soziologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck blickt zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise auf ein Interview zurück, das ihn bis heute verfolgt. 2015 hatte der Standard aus einem Gespräch mit ihm den Satz herausgehoben, man werde Angela Merkel in zehn Jahren dankbar sein. Nun erläutert Bauböck gegenüber Welt, dass er damals vorsichtiger formuliert habe – und der markante Eindruck vor allem durch die Überschrift entstanden sei.
Seine damalige Kernthese: Massive, kurzfristig unkontrollierte Zuwanderung verursache zunächst Belastungen, könne langfristig aber wirtschaftliche und demografische Vorteile bringen. Nach Bauböcks Analyse sei genau das eingetreten. Die Beschäftigungsquote der 2015 nach Deutschland geflüchteten Syrer liege heute bei 64 Prozent, die Integration habe laut Arbeitsmarktökonomen besser funktioniert als bei früheren Zuwanderungswellen. Der Vergleich mit Ländern wie Ungarn zeige zudem, dass ein Abschotten negative demografische und wirtschaftliche Effekte haben könne.

Herausforderungen und politische Wahrnehmung
Kritikpunkte erkennt der Forscher gleichwohl: Die Beschäftigung von Frauen sei besonders niedrig, was er kulturell erklärt, aber als veränderbar betrachtet. Ein erheblicher Teil der Gruppe sei aufgrund der langen Unterbringung in Sammelunterkünften und der familiären Situation weiterhin auf Sozialleistungen angewiesen. Zu glauben, Geflüchtete könnten binnen kurzer Zeit ohne staatliche Unterstützung auskommen, sei unrealistisch.
Den hohen Anteil von Ausländern unter den Bürgergeldempfängern führt Bauböck auf strukturelle Faktoren zurück: Sprachbarrieren, Qualifizierungsbedarf und der notwendige Einstieg am unteren Ende des Arbeitsmarkts. Sozialleistungen müssten so gestaltet sein, dass sie nicht vom Arbeitsmarkt fernhalten. Zugleich kritisiert er das österreichische Modell: sehr niedrige Leistungen für Asylwerber bei gleichzeitig restriktiven Arbeitsverboten erzeugten ein politisches Dilemma.
Die häufig vorgebrachte These, großzügige Sozialstaaten seien zentrale Pull-Faktoren, weist Bauböck zurück. Wichtiger sei die Aussicht auf Beschäftigung und die Möglichkeit legaler wirtschaftlicher Migration, um gemischte Asyl- und Erwerbszuwanderung zu reduzieren.
Politisch sieht Bauböck die Debatte stark verzerrt. Migration werde schnell zum Sicherheitsthema, wodurch Einzelfälle die Wahrnehmung dominieren. Dass ökonomische Indikatoren und demografische Lage ohne die Zuwanderung schlechter wären, werde ausgeblendet. Die anhaltende Empörung über sein altes Zitat erklärt er als Beispiel einer „Empörungsmaschine“, die differenzierte Argumente kaum zulasse.
Im letzten Teil des Gesprächs mit Welt spricht Bauböck über den Zugang zur Staatsbürgerschaft. Er plädiert dafür, politische Rechte als Motor der Integration zu verstehen. In Österreich seien 20 Prozent der Wahlfähigen ausgeschlossen, in Wien 36 Prozent. Das schade der demokratischen Repräsentation. Er fordert niedrigere Hürden bei der Einbürgerung und verweist auf Deutschland, wo inländisch geborene Kinder schneller Staatsbürger werden.
Ob man Merkel 2035 tatsächlich dankbar sein werde, lässt Bauböck offen. Die demografische Entwicklung hänge stark von der künftigen Migrationspolitik ab. Sollte Europa sich politisch abschotten, warnt er, drohten langfristig deutliche wirtschaftliche Nachteile und ein weiterer Bedeutungsverlust auf globaler Ebene.