In Niall Fergusons Buch „Der Aufstieg des Geldes: Eine Finanzgeschichte der Welt” finden sich zwei Sätze, die das Wesen des Geldes schön zusammenfassen: „Geld ist kein Metall. Es ist eingraviertes Vertrauen.”
Vertrauen ist ein sehr kostbares Gut, denn man kann es über Jahre hinweg aufbauen und dennoch nie vollständig erreichen. Verlieren kann man es in einem einzigen Augenblick, einer einzigen falschen Entscheidung. Die Entscheidung, was mit den eingefrorenen russischen Vermögenswerten in Europa geschehen soll, ist entsprechend nicht nur eine politische, geopolitische, rechtliche oder moralische Frage.
Sie hat auch eine wesentliche finanzielle Dimension. Diese wird oft übersehen, da sie überwiegend technischer Natur ist und - umgangssprachlich gesagt - die ganze Situation „verkompliziert“. Gerade die finanzielle Dimension demonstriert jedoch am besten, in welch erheblichen Schwierigkeiten sich Europa befindet und wie tief es noch fallen kann, wenn es tatsächlich beschließt, russische Vermögenswerte ohne Vereinbarung mit ihrem Eigentümer zu beschlagnahmen.
Zusammensetzung der russischen Reserven
Die Europäische Union hatte im Februar 2022 beschlossen, die im EU-Raum gehaltenen Devisenreserven der Zentralbank der Russischen Föderation (CBR) einzufrieren. Am Freitag, dem 12. Dezember 2025, beschloss sie sogar, die russischen Vermögenswerte auf unbestimmte Zeit einzufrieren. Es handelt sich dabei um etwa 210 Milliarden Euro. Der größte Teil davon – rund 192 Milliarden Euro – befindet sich in Belgien auf Konten der Firma Euroclear, gegen die die russische Zentralbank bereits Klage eingereicht hat.
Diese belgische Institution gehört zu den weltweit bedeutendsten Clearingstellen für Anleihen und großvolumige Reservetransaktionen.
Weitere 18 Milliarden Euro befinden sich in Frankreich. Schätzungen zufolge werden 60 bis 80 Prozent dieser Vermögenswerte in Form von Staatsanleihen gehalten, insbesondere aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern der Europäischen Union. Nur zehn bis zwanzig Prozent der Vermögen bestehen aus Bargeld.
Es stellt sich die berechtigte Frage, warum die russische Zentralbank so viele europäische Anleihen in ihrem Portfolio hatte. Die Antwort ist einfach: Der Hauptgrund lag beim intensiven Außenhandel zwischen Russland und der Europäischen Union. Die Trennung von Nord Stream und damit von russischem Öl führte zu einem starken Anstieg der Energiepreise und besiegelte das Schicksal vieler energieintensiver Branchen der europäischen Industrie.
Warum die Russen die europäischen Schulden finanzierten
Dies war jedoch nicht die einzige Folge der Einstellung des Handels zwischen der EU und Russland. Europa bezahlte russisches Gas und Öl lange Zeit in Euro. Da die Handelsbilanz langfristig zugunsten Russlands ausfiel, sammelten sich in der russischen Zentralbank beträchtliche Euro-Überschüsse an.
Die russische Zentralbank reinvestierte diese Euro üblicherweise vor allem in europäische Staatsanleihen und andere sichere Anlagen. So verfahren fast alle Zentralbanken weltweit: Sie nutzen ihre Devisenreserven entweder zum Ausgleich des Außenhandels oder diversifizieren sie durch den Kauf liquider und risikoarmer Instrumente.
Die eingefrorenen russischen Reserven sind also kein „Geld der Oligarchen”, sondern vor allem das Ergebnis einer zwanzigjährigen Energiepartnerschaft des alten Kontinents mit Russland. Für Europa, das selbst eine enorme Verschuldung hat, kam ein Käufer gerade recht, der bereit war, europäische Anleihen trotz ihrer sehr geringen Rendite zu akzeptieren. Russland hielt diese Anleihen vor allem, um den Handel aufrechtzuerhalten, auch wenn dies aus rein wirtschaftlicher Sicht in Zeiten niedriger Zinsen nicht besonders sinnvoll war.
Der Weggang der russischen Zentralbank als stabiler Käufer trug zu einem leichten Anstieg der Renditen europäischer Anleihen um einige Zehntel Prozentpunkte bei. Im Vergleich zur Inflation und den Zinserhöhungen der EZB war dies eine vernachlässigbare Veränderung. Das eigentliche Problem ist jedoch nicht nur Russland. Das Einfrieren seiner Vermögenswerte war ein Signal an alle anderen, die europäische Anleihen halten wollen: Wenn sich die geopolitische Lage ändert, sind ihre Ersparnisse in Gefahr.
Ein Präzedenzfall, der die Spielregeln verändert
In der Finanzwelt galt lange Zeit, dass die Reserven der Zentralbanken einen höheren Grad an Immunität genießen als normales Staatseigentum. Die Devisenreserven der Zentralbanken sind nicht nur ein Anlageportfolio. Sie sind Mittel, die die Währungsstabilität eines Staates schützen. Sie dienen als Garantie im internationalen Handel und stellen die letzte Absicherung für den Fall einer Krise der heimischen Währung dar.
Das Einfrieren solcher Vermögenswerte ist daher ein offen feindseliger Akt und nur eine Stufe milder als eine Kriegserklärung. Gerade das Einfrieren der russischen Reserven zwingt andere Staaten dazu, ernsthaft darüber nachzudenken, ob es noch Sinn macht, europäische Anleihen zu besitzen.
Die gesamten Euro-Reserven außerhalb der Eurozone belaufen sich laut INternationalee Währungsfond IWF auf etwa 2,2 bis 2,4 Billionen Euro. Genaue Zahlen für die einzelnen Länder sind nicht ohne Weiteres verfügbar. Es wird jedoch geschätzt, dass allein China mehr als 250 Milliarden Euro hält.
Angesichts der aktuell angespannten geopolitischen Lage könnte China ebenfalls ein Anwärter für das Einfrieren von Reserven werden, was für den alten Kontinent eine unmittelbare Katastrophe bedeuten würde. Europa ist heute stark von chinesischen Waren abhängig, und für China bleibt es ein wichtiger Absatzmarkt, nachdem die Vereinigten Staaten hohe Zölle auf chinesische Produkte eingeführt haben.
Auch die arabischen Petromonarchien halten einen großen Anteil an europäischen Anleihen, die sie bislang auch weiterhin aus den Überschüssen des Ölhandels kaufen. Für Europa wäre es ein großes Problem, wenn diese Staaten den Kauf einstellen oder sich sogar zum Verkauf ihrer Positionen entschließen würden. Die Folgen wären praktisch sofort spürbar und sehr schmerzhaft.
Andererseits kann sich Europa in diesem Fall auf die geopolitische Machtverteilung verlassen. Die Ölmonarchien betrachten russisches Öl als billige Konkurrenz, die ihre Preise langfristig untergräbt, weshalb ihre strategischen Interessen meist näher an Europa und dem Westen als an Moskau liegen. Sie treten also nicht als feindlicher Akteur auf, sondern als vorsichtiger Spieler, der seine eigenen Energie- und Sicherheitsprioritäten sorgfältig schützt.
Staaten wie Indien, Brasilien oder Südafrika nutzten den Euro vor allem als Instrument zur Diversifizierung gegenüber dem US-Dollar. Gerade weil sie hypothetisch eines Tages auf der Liste der Feinde der Vereinigten Staaten landen könnten.
Jetzt beobachten sie jedoch angesichts der Debatte um Russland, dass die Anlage ihrer Reserven in Euro sie nicht vor dem Einfrieren ihrer Vermögenswerte schützt. Auch dies kann als weiterer Sieg der amerikanischen Strategie verstanden werden. Nach dem Einfrieren der russischen Reserven ist nämlich klar, dass der Euro keine vollwertige Alternative zum Dollar sein kann.
Europa tut immer noch so, als sei das Einfrieren der russischen Reserven ein Ausnahmefall und kein Präzedenzfall, der die Spielregeln für alle, die Euro-Vermögenswerte halten, grundlegend verändert.
Wenn es das nicht versteht, könnte es sehr bald feststellen, dass die verwundbarste Währung auf dem europäischen Kontinent nicht der Rubel, sondern ausgerechnet der Euro ist.