Europäische Experten warnen vor der Gefahr einer Destabilisierung des Finanzplatzes Europa

Die Debatte um die Nutzung der 210 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Vermögen gefährdet den Ruf des Finanzplatzes Europa. Statement sammlte dazu die Stimmen europäischer Experten.

Ursula von der Leyen. Foto: Yves Herman/Reuters

Ursula von der Leyen. Foto: Yves Herman/Reuters

Im Zentrum der aktuellen Debatte steht die geplante Nutzung eingefrorener russischer Staatsvermögen in Höhe von 210 Milliarden Euro, die überwiegend bei europäischen Finanzinstituten verwahrt werden. Die EU-Kommission prüft, wie diese Gelder langfristig zur Unterstützung der Ukraine eingesetzt werden können. Für Europa als Finanzstandort ist dies eine Entscheidung von historischer Tragweite - siehe dazu auch das aktuelle Weekly Statement Österreich - Der Jahrhundert-Raub.

Bislang galt der europäische Kontinent als Inbegriff rechtlicher Stabilität: Eigentumsschutz, Rechtssicherheit, gerichtliche Durchsetzbarkeit von Ansprüchen und politische Zurückhaltung gegenüber direkten Eingriffen in Vermögenswerte zählten zu den wichtigsten Standortvorteilen. Jetzt droht der Ruf des europäischen Finanzplatzes beschädigt zu werden: Geopolitische Spannungen, der Krieg in der Ukraine und ein wachsender Anspruch der Europäischen Union, außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähiger zu werden, verändern die Rahmenbedingungen für die Kapitalmärkte spürbar.

Mit der Diskussion über eine faktische Übernahme russischer Vermögenswerte wird dieses Selbstverständnis nun neu verhandelt. Zwar betont die EU-Kommission, dass es sich um eine außergewöhnliche Maßnahme in Reaktion auf einen klaren Bruch des Völkerrechts handle, doch selbst innerhalb Europas wächst die Sorge vor langfristigen Folgen.

Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und zuvor Professorin für Finanzökonomie an der Universität Bonn, warnte kürzlich in Frankfurt im Interview mit Bloomberg davor, die Bedeutung von Vertrauen zu unterschätzen. Finanzstabilität entstehe nicht allein durch Regulierung, sondern durch Berechenbarkeit. Schnabel: "Wir sollten nicht vergessen, dass die strengere Bankenregulierung, die nach der globalen Finanzkrise eingeführt wurde, sehr erfolgreich war. Wir haben massive Schocks erlebt: eine Pandemie, Krieg in Europa, der steilste Zinserhöhungszyklus in der Geschichte der EZB – und das alles ohne eine Finanzkrise. Dies lag an guter Regulierung und Aufsicht." Isabel Schnabel gehört zu den einflussreichsten Ökonominnen Europas und prägt maßgeblich die geldpolitische Debatte innerhalb der Europäischen Zentralbank.

Daniel Gros: "Gefährlicher Präzedenzfall"

Ähnlich äußert sich der Ökonom Daniel Gros, Direktor des Institute for European Policymaking (CEPS) an der Bocconi-Universität in Mailand. Neben seiner Tätigkeit bei CEPS war Gros Berater der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der EZB, des Internationalen Währungsfonds und mehrerer nationaler Regierungen. Er sieht in der aktuellen Debatte einen gefährlichen Präzedenzfall: Die zentrale Frage sei weniger, ob Russland moralisch verantwortlich gemacht werden müsse, sondern ob Europa bereit sei, dauerhaft politische Kriterien über den Schutz staatlicher Vermögenswerte zu stellen. In einem wissenschaftlichen Beitrag unter dem Titel "What Europe and the EU need to stand for" schrieben Daniel Gros und weitere Ökonomen darüber, wofür die EU und Europa stehen sollten: "Die EU muss Entschlossenheit zeigen und ihren Kurs konsequent verfolgen: offen bleiben, den Binnenmarkt vollenden, die digitale Agenda vorantreiben und die grüne Transformation erfolgreich umsetzen, ihre demokratischen Werte wahren sowie Vielfalt und Inklusion weiterhin ganz oben auf ihre Agenda setzen."

Auf wirtschaftlicher Ebene kann die EU auf ihre eigenen Stärken bauen. Die Grundlage für tiefgreifende strukturelle Reformen – insbesondere zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit – wurde im vergangenen Jahr mit einer Reihe hochrangiger Berichte gelegt, die die Agenda der zweiten von-der-Leyen-Kommission prägen sollten. Diese Agenda beginnt nun umgesetzt zu werden, ergänzt durch weitere Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten.

Und Andreas Dombret, ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst, verweist zwar darauf, dass "die Deutschen durchaus politischer sein könnten". Aber er sagte auch in der Vergangenheit: Zentralbanken denken bei der Wahl ihrer Reservewährungen in Zeiträumen von Jahrzehnten. Ein einmal erschüttertes Vertrauen lasse sich kaum kurzfristig wiederherstellen. Besonders problematisch sei, dass Europa im Gegensatz zu den USA keine voll integrierte Kapitalmarktunion besitze, die mögliche Abflüsse kompensieren könnte.

Der Vergleich mit den Vereinigten Staaten fällt in dieser Debatte immer wieder: Zwar haben auch die USA russische Vermögenswerte eingefroren und diskutieren deren Nutzung. Doch der Dollar bleibt aufgrund seiner dominanten Rolle im Welthandel, der Größe der US-Kapitalmärkte und der politischen Durchsetzungskraft Washingtons bislang weitgehend unangetastet. Für viele Investoren gilt der US-Markt als alternativlos, selbst wenn politische Risiken steigen.

EZB-Chefökonom Peter Praet warnt

Europa befindet sich hingegen in einer strukturell fragileren Position. Der Euro spielt international weiterhin eine begrenzte Rolle, regulatorische Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten erschweren grenzüberschreitende Investitionen, und geopolitische Ambitionen treffen auf eine unvollständige institutionelle Architektur. Der ehemalige EZB-Chefökonom Peter Praet, der Währungsfachmann aus Belgien, warnte in diesem Zusammenhang, Europa dürfe geopolitische Stärke nicht mit finanzieller Belastbarkeit verwechseln.

Allerdings gibt es auch Befürworter einer politisch klareren Positionierung des Finanzplatzes Europa: Die italienische Politökonomin Lucrezia Reichlin argumentierte, dass finanzielle Neutralität in einer Welt systemischer Konflikte zunehmend illusorisch werde. Staaten und Finanzplätze müssten Position beziehen. Entscheidend sei jedoch, dass jeder Schritt klar begrenzt, transparent und rechtlich eindeutig abgesichert werde: "Die Herausforderung, vor der die EU heute steht, ist außergewöhnlich. Lösungen aus dem alten, immer gleichen Repertoire – die sich auf Inflationsbekämpfung und Fiskalregeln konzentrieren – werden nicht funktionieren. Auch die Maßnahmen, auf die sich der Block bisher geeinigt hat – darunter die vorübergehende Lockerung der Beihilfevorschriften (damit Regierungen Unternehmen bei Liquiditätsproblemen infolge der gegen Russland verhängten Sanktionen helfen können) sowie die Bemühungen, die Abhängigkeit von russischer Energie zu verringern – reichen nicht aus. Je früher die europäischen Staats- und Regierungschefs dies erkennen, desto besser."

Und Österreichs Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) sagte gegenüber der Presse, er halte den Plan über ein Reparationsdarlehen für "überzeugend" und für die "beste Lösung, die jetzt möglich ist". Das Risiko für Österreich würde dabei in einer Haftung in Höhe eines einstelligen Milliardenbetrags bestehen, kolportiert werden vier Milliarden Euro. Die zweite Möglichkeit zur Finanzierung der Ukraine bestünde in der Aufnahme von neuen EU-Schulden.

Die Entscheidung über die russischen Vermögenswerte ist damit weit mehr als eine haushaltspolitische Frage - sie berührt das Fundament des europäischen Finanzmodells.

(Euronews/Bloomberg/Eurofinance/RS)