Die Mehrheit übt sich in Selbstzensur – Zweifel an der Meinungsfreiheit wachsen

Eine neue Umfrage zeigt, wie verbreitet Zurückhaltung beim Äußern politischer Meinungen inzwischen ist. Gleichzeitig steigt die Zustimmung zu Sprechverboten – quer durch das politische Spektrum.

Viele Deutsche verordnen sich selbst einen Maulkorb. Foto: - Stock-Fotografie Biarritz, France

Viele Deutsche verordnen sich selbst einen Maulkorb. Foto: - Stock-Fotografie Biarritz, France

BERLIN. Eine Mehrheit der Deutschen glaubt, politische Ansichten nicht mehr unbefangen äußern zu können. Das ist das zentrale Ergebnis einer neuen repräsentativen Umfrage, über die zuerst die NZZ berichtete, die ein wachsendes Klima der Zurückhaltung dokumentiert – quer durch Altersgruppen und politische Lager. 57 Prozent der Befragten geben an, politische Meinungen nur noch mit Vorsicht zu äußern. Uneingeschränkte Meinungsfreiheit sehen nur noch wenige als gelebte Realität.

Besonders ausgeprägt ist dieses Empfinden in Ostdeutschland, vor allem in Brandenburg und Sachsen. Auch die Parteipräferenz spielt eine zentrale Rolle. Unter Anhängern der AfD geben 89 Prozent an, sich nicht mehr frei äußern zu können. Bei der Linken liegt dieser Wert bei 48 Prozent, bei der Union bei 42 Prozent und bei der SPD bei 34 Prozent. Deutlich geringer ist die Skepsis unter Grünen-Wählern: Dort teilen nur 15 Prozent den Eindruck, politische Aussagen seien nur noch eingeschränkt möglich.

Erhoben wurden die Daten vom Institut Mentefactum unter der Leitung des früheren Emnid-Chefs Klaus-Peter Schöppner im Auftrag des Schweizer Medienanalyseunternehmens Mediatenor. Die Online-Befragung ist repräsentativ angelegt und knüpft inhaltlich an langjährige Untersuchungen zur Meinungsfreiheit an.

Wahrnehmung und politische Entwicklung

Zusätzlich wurde erhoben, wie die Befragten die Entwicklung der Meinungsfreiheit seit dem Amtsantritt der schwarz-roten Bundesregierung im Mai einschätzen. 34 Prozent sehen seither eine Verschlechterung, 57 Prozent keine Veränderung. Lediglich neun Prozent nehmen eine Verbesserung wahr. Besonders ausgeprägt ist die Kritik bei Anhängern der Oppositionsparteien AfD und Linke, die mehrheitlich von einer weiteren Verengung des öffentlichen Meinungskorridors ausgehen.

Langfristige Vergleichsdaten stützen diese Wahrnehmung. Das deutsche Meinungsforschungsinstitut Allensbach erhebt seit 1953, ob Menschen glauben, ihre politische Meinung frei äußern zu können. In den vergangenen Jahren wurden dabei historisch niedrige Werte gemessen. Der stärkste Einbruch erfolgte nach Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2021, seither ist keine nachhaltige Erholung erkennbar. Auch hier zeigen sich besonders hohe Zurückhaltungswerte unter AfD-Anhängern sowie Wählern des BSW.

Offen bleibt, ob es sich dabei vor allem um subjektive Eindrücke handelt oder ob konkrete politische und rechtliche Entwicklungen dieses Empfinden verstärken. Viele Befragte verweisen auf soziale Sanktionen, die Angst vor beruflichen Nachteilen oder vor öffentlicher Stigmatisierung.

Quelle: Institut Mentefactum im Auftrag von Mediatenor; Online-Befragung, zitiert nach NZZ, Dezember 2025. Statement.at

Recht, Regulierung und innere Widersprüche

Die Kölner Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski warnt davor, diese Entwicklung als einfache Befindlichkeit abzutun. In einem Beitrag für Legal Tribune Online argumentiert sie, dass sich die rechtlichen Spielräume real verengt hätten. Meinungsäußerungen würden heute deutlich häufiger strafrechtlich verfolgt als noch vor wenigen Jahren. Sie verweist unter anderem auf neue Tatbestände wie die verhetzende Beleidigung sowie auf die verschärfte Politikerbeleidigung nach Paragraf 188 StGB.

Auch außerhalb des Strafrechts sieht Rostalski wachsenden Druck. Das neue Selbstbestimmungsgesetz mit teils hohen Bußgeldern beim sogenannten Deadnaming sowie der Digital Services Act der Europäischen Union könnten dazu beitragen, dass auch rechtmäßige Meinungsäußerungen gelöscht oder sanktioniert werden. Um Konflikte mit Plattformen oder Behörden zu vermeiden, übten sich viele Nutzer vorsorglich in Selbstzensur.

Gleichzeitig zeigt eine weitere Allensbach-Erhebung ein widersprüchliches Bild. Eine Mehrheit der Befragten befürwortet Verbote provokanter Aussagen. 52 Prozent sprechen sich für ein Verbot des Satzes „Soldaten sind Mörder“ aus, 49 Prozent für ein Verbot der Aussage, Homosexualität sei eine Krankheit. 43 Prozent halten auch ein Verbot der Aussage „Frauen gehören an den Herd“ für richtig. Über alle Beispiele hinweg zeigen Anhänger der Union die höchste Zustimmung zu Sprechverboten, gefolgt von Grünen-Wählern. Am geringsten ist sie unter Anhängern des BSW und der AfD.