Ein Afghane raus, 500 neue rein: Warum es in Deutschland weiter keine Migrationswende gibt

Deutschlands Bundesregierung spricht von einem härteren Kurs in der Migrationspolitik. Gleichzeitig werden neue Migranten eingeflogen. Ein aktueller Resettlement-Fall zeigt, wie es um die Migrationswende wirklich steht.

Ein Polizist steht an der deutschen Grenze vor dem Schild Bundesrepublik Deutschland. Symbolbild: Getty Images / Stadtratte

Ein Polizist steht an der deutschen Grenze vor dem Schild Bundesrepublik Deutschland. Symbolbild: Getty Images / Stadtratte

BERLIN. Mitte der Woche sind 150 Migranten aus Kenia nach Deutschland eingeflogen worden. Die Aufnahme war bereits seit Monaten vorgesehen, zwischenzeitlich jedoch ausgesetzt worden. Erst nach gerichtlichen Entscheidungen konnte der Transfer umgesetzt werden. Die Betroffenen wurden über das Resettlement-Programm des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ausgewählt und erhielten unmittelbar einen Aufenthaltstitel.

Der Vorgang macht früh deutlich, worin das zentrale Problem der deutschen Migrationspolitik liegt: Während politisch ein harter Kurs beschworen wird, laufen die zentralen Mechanismen der Zuwanderung weitgehend unverändert weiter. Die sogenannte Migrationswende existiert bislang vor allem in der politischen Kommunikation – nicht in der rechtlichen und administrativen Praxis.

Härte als Botschaft, nicht als Strukturbruch

Die Bundesregierung unter Beteiligung der Union betont seit Monaten eine neue Konsequenz in der Migrationspolitik. Abschiebungen, Grenzkontrollen und Rückführungen werden öffentlich hervorgehoben. Besonders Abschiebungen von Straftätern dienen als sichtbares Zeichen staatlicher Handlungsfähigkeit.

Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2024 mehr als 20.000 Menschen abgeschoben, hinzu kommen Zurückweisungen und Rückschiebungen an den Grenzen. Diese Zahlen werden regelmäßig als Beleg eines Kurswechsels angeführt.

Tatsächlich sind diese Abschiebungen real. Sie bleiben jedoch punktuell. Sie verändern weder die grundlegenden Zugangswege nach Deutschland noch die rechtlichen Strukturen der Migration. Abschiebungen wirken damit vor allem symbolisch: Sie setzen ein politisches Signal, ohne einen strukturellen Bruch herbeizuführen.

Migration jenseits des Asylsystems

Parallel dazu existiert eine Form der Zuwanderung, die kaum Teil der öffentlichen Debatte ist. Über Resettlement- und humanitäre Aufnahmeprogramme werden Migranten gezielt nach Deutschland eingeflogen – außerhalb des regulären Asylsystems.

Beim Resettlement schlägt das UNHCR den Aufnahmestaaten Personen vor, die weder in ihr Herkunftsland zurückkehren noch im Erstaufnahmeland bleiben können. Deutsche Behörden führen Auswahlgespräche und Sicherheitsüberprüfungen durch. Wer aufgenommen wird, reist nicht als Asylbewerber ein, sondern erhält unmittelbar einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Ein Asylantrag entfällt. Bei erfolgreicher Integration ist später eine unbefristete Niederlassung möglich.

Diese Migration ist von Beginn an auf Dauer angelegt. Sie ist rechtlich abgesichert und politisch nur eingeschränkt steuerbar, sobald Zusagen erfolgt sind. Genau darin liegt der strukturelle Widerspruch zur angekündigten Migrationswende.

Anfang Mai verhängte das Bundesinnenministerium einen vorübergehenden Aufnahmestopp für neue Resettlement-Zusagen. Begründet wurde dies mit laufenden Koalitionsverhandlungen. Der Schritt wurde öffentlich als Signal der Zurückhaltung interpretiert. Tatsächlich war der Stopp eng begrenzt. Er betraf ausschließlich neue Verfahren. Bereits vorbereitete oder faktisch zugesagte Aufnahmen blieben rechtlich angreifbar und damit durchsetzbar.

Für die betroffenen Migranten hatte dies zunächst konkrete Folgen. Mehrere Familien waren bereits aus dem Lager Kakuma in Kenia nach Nairobi gebracht worden, um von dort aus nach Deutschland eingeflogen zu werden. Der geplante Flug wurde kurzfristig abgesagt, die Migranten wieder in das Lager zurückgebracht. Der politische Stopp erwies sich damit nicht als klare Zäsur, sondern als verwaltungstechnische Pause.

NGOs als Korrektiv politischer Entscheidungen

In dieser Phase traten Asyl-NGOs als juristische Akteure auf. Die Organisation Pro Asyl unterstützte mehrere Betroffene bei Klagen gegen den Aufnahmestopp. Ende Oktober entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im Fall einer Migrantin aus dem Südsudan, die gemeinsam mit fünf Angehörigen für eine Resettlement-Aufnahme ausgewählt worden war.

Das Gericht stellte fest, dass ihr die Einreise zu gewähren sei. Ausschlaggebend war, dass die Auswahl bereits vor dem politischen Stopp erfolgt war und damit eine rechtliche Bindung entstanden war. Der Staat könne sich von einer solchen Zusage nicht nachträglich lösen. Dieses Urteil hatte Signalwirkung. Es machte deutlich, dass politische Kurskorrekturen dort enden, wo individuelle Ansprüche einklagbar geworden sind. In der Folge konnten weitere ausgewählte Migranten nach Deutschland eingeflogen werden.

NGOs fungieren in diesem System als juristische Durchsetzungsinstanzen. Sie prüfen politische Entscheidungen auf ihre rechtliche Haltbarkeit und setzen bestehende Ansprüche gerichtlich durch – unabhängig von politischen Stimmungswechseln. Damit existieren zwei parallele Ebenen. Auf der einen Seite Abschiebungen einzelner Straftäter, die politisch als Beleg eines härteren Kurses präsentiert werden. Auf der anderen Seite die fortgesetzte Einreise neuer Migranten über Programme und Gerichtsentscheidungen.

Für die öffentliche Wahrnehmung dominiert die Abschiebung. Die Einflüge bleiben meist randständig. Sie erscheinen in keiner Asylstatistik und werden selten in Relation zu Abschiebungen gesetzt. Für die langfristige Entwicklung ist jedoch entscheidend, wie viele neue dauerhafte Aufenthaltsrechte entstehen.

https://twitter.com/S_Muenzenmaier/status/2001205859754361032

Ein Afghane raus, 500 neue rein

Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Signale zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Afghanistan. Während die Bundesregierung die Abschiebung eines einzelnen afghanischen Intensivstraftäters öffentlich als Fortschritt hervorhebt, laufen parallel staatliche Aufnahmeprogramme weiter.

Mitte Dezember wurde erstmals ein 28-jähriger afghanischer Intensivtäter per Linienflug nach Afghanistan abgeschoben. Die Rückführung erfolgte im Rahmen neuer Vereinbarungen zwischen Deutschland und den Taliban und wurde von der Politik ausdrücklich als Signal eines härteren Kurses gewertet. Gleichzeitig plant die Bundesregierung, im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms noch in diesem Jahr mehr als 500 Afghanen nach Deutschland einzufliegen. Die Aufnahmen erfolgen legal, organisiert und mit unmittelbaren Aufenthaltstiteln – unabhängig von einzelnen Abschiebungen.

Der Kontrast zwischen symbolisch hervorgehobener Einzelabschiebung und fortgesetzter staatlicher Aufnahme verdeutlicht, dass Abschiebungen und Zuwanderung nicht gegeneinander wirken, sondern parallel stattfinden.

Warum die Migrationswende ausbleibt

Die Union trägt die Rhetorik der Migrationswende inzwischen als Teil der Bundesregierung mit. An den strukturellen Mechanismen der Migration hat sich dadurch jedoch wenig geändert. Programme bestehen fort, Gerichte setzen Zusagen durch, NGOs nutzen juristische Spielräume konsequent. Der Staat ist dabei nicht handlungsunfähig, sondern rechtlich gebunden. Wer Migration institutionell organisiert, schafft einklagbare Ansprüche. Diese lassen sich politisch nicht rückgängig machen, ohne rechtsstaatliche Grundsätze zu verletzen.

Der Fall aus Kenia ist deshalb kein Ausreißer, sondern ein Lehrbeispiel. Abschiebungen dienen der politischen Kommunikation, während legale Zuwanderung administrativ und juristisch abgesichert fortgesetzt wird.