Wollte Jeffrey Epstein wirklich deshalb zum Life Ball nach Wien – um dort junge Frauen, möglicherweise auch Minderjährige, zu rekrutieren? Diese Frage stellt sich inzwischen dringender denn je. Neue Chatfunde aus den Epstein-Files und die Aussagen des früheren Modelmanagers Horst-Dieter Esch zeichnen ein Muster, das sich auffällig mit jener geplanten Wien-Reise des bereits 2008 verurteilten US-Multimillionärs deckt.
Tatsache ist: Epstein hatte 2012 großes Interesse, zum Life Ball nach Wien zu kommen. Während der frühere Organisator Gery Keszler später erklärte, es habe keinerlei Kontakte zwischen Epstein und der Life-Ball-Organisation gegeben, belegen nun von Cybersecurity-Experten analysierte Mails das Gegenteil. Eine Life-Ball-Mitarbeiterin schrieb an Epsteins engen Weggefährten Kevin Frost, man freue sich darauf, dass „Jeffrey die Gala sehr genießen wird“, und bot weitere Unterstützung an. Der Austausch enthält Programme, Ticketinformationen und Details zur Auktion der AIDS Solidarity Gala – also genau jene Inhalte, die Keszler stets bestritten hatte. Zusätzlich bemühte sich eine bekannte österreichische Medienpersönlichkeit über Epsteins Umfeld um eine Einladung und schilderte schwärmerisch das Flair des Balls, das Galadinner in der Hofburg und die „crazy“ Outfits der Gäste. 2012 war Epstein längst kein Unbekannter mehr, sondern ein registrierter Sexualstraftäter. Dennoch wurde er augenscheinlich aktiv umworben.
Diese neue Wien-Spur fügt sich nahtlos in ein größeres Bild. Der deutsch-amerikanische Unternehmer Horst-Dieter Esch berichtete gegenüber der „Bild“, Epstein habe bereits in den 1990er-Jahren versucht, über seine Modelagentur Zugang zu jungen Frauen für eine Sexparty zu erhalten. Ein Model meldete sich später bei Esch und schilderte, sie sei mit fünf weiteren Frauen auf eine Jacht vor Saint Barth gebracht worden, wo es um Sex und Drogen gegangen sei. Einige der Frauen seien minderjährig gewesen. Epstein habe sich damals ausschließlich für die weiblichen Models interessiert, nicht für jene Männerkartei, die geschäftlich viel wertvoller war. Esch deutete den Vorfall als Teil eines breiteren Rekrutierungssystems – ein System, das auch später zahlreiche Agenturen betraf und das durch Personen wie Ghislaine Maxwell und Jean-Luc Brunel erst möglich wurde. Die Muster ähneln einander: Epstein suchte gezielt nach Orten, Branchen und Veranstaltungen, an denen junge, oft unerfahrene Frauen verfügbar waren.
Österreichs Epstein-Verbindungen werfen neue Fragen auf
Während die geplante Wien-Reise in den Kontext dieses globalen Rekrutierungsnetzwerks fällt, steht Österreich in den kommenden Tagen noch aus einem weiteren Grund im Fokus. Denn mit der vollständigen Veröffentlichung aller bisher zurückgehaltenen Epstein-Files könnte ein Kapitel wieder ans Licht kommen, das seit Jahrzehnten ungeklärt ist: der österreichische Pass, den Epstein 1982 unter falschem Namen erhalten haben soll. Ausgestellt wurde er zu einer Zeit, als die SPÖ unter Bundeskanzler Bruno Kreisky allein regierte und das Innenministerium voll in roter Hand war. Laut US-Gerichtsakten wurde der Pass benutzt – er trägt Stempel aus mehreren Ländern, darunter Frankreich, Großbritannien und Saudi-Arabien. Die offizielle Erklärung seines damaligen Anwalts, es habe sich um ein „Notfalldokument“ gehandelt, wirkt angesichts der belegten Reisen wenig überzeugend.
Ebenso brisant sind die geopolitischen Überschneidungen jener Jahre: Kontakte zwischen Epstein und dem saudischen Waffenhändler Adnan Khashoggi, parallele illegale Waffenexporte der österreichischen VOEST-Tochter Noricum in den Iran-Irak-Krieg und ein Zeitraum, in dem Geheimdienste und private Finanznetzwerke intensiv zusammenarbeiteten. Ob Epstein in dieser Phase bereits eine Rolle spielte oder als Verbindungsmann genutzt wurde, bleibt offen. Fest steht jedoch: Die Behörden in Wien haben die Herkunft des Passes bis heute nicht zufriedenstellend erklärt. Auch eine parlamentarische Anfrage der FPÖ 2022 brachte keine Klarheit. Das Innenministerium erklärte lediglich, es gebe „keine Erkenntnisse“ und „keine österreichischen Pässe für Ausländer“, womit sich die Frage nicht stelle. Die US-Akten sprechen jedoch eine andere Sprache.
Noch mehr Namen werden fallen
Mit den unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichungen aller Epstein-Dokumente könnte nun ein Gesamtbild entstehen, das mehrere bisher getrennte Stränge miteinander verbindet: Epsteins Interesse am Life Ball, die belegte Kommunikation zwischen der Organisation und seinem Umfeld, die Erinnerung eines Modelmanagers an Rekrutierungsversuche für Sexpartys, die mutmaßliche Passausstellung der 1980er-Jahre und mögliche politische Verstrickungen.
Ob Epstein Wien tatsächlich als neuen Rekrutierungsort ins Auge fasste, lässt sich heute nicht eindeutig beantworten – doch die Frage ist angesichts der bislang bekannten Muster nicht nur legitim, sondern zwingend. Klar ist jedenfalls, dass die kommenden Tage Antworten liefern könnten, die man in Österreich lange nicht hören wollte.